Montag, 26. August 2013

Eigenart der Runenlieder

Das Singen von Runen-Liedern ist eine sehr alte Volksliedtradition unter den meisten finno-ugrisch-sprachigen Völkern in Finnland, Russland und Baltikum. Über den genauen Ursprung der Runenlieder ist man sich uneinig. Mehrere Autoren gehen davon aus, dass die Wurzeln des Runengesangs einige Tausend Jahre zurückreichen. Sicher ist, dass sich die Grundzüge der Tradition, die Lied­formen und viele der Liedthemen Ende des ersten Jahrtausends nach Christi Geburt etabliert hatten, also noch bevor das Gebiet christianisiert und von Schweden, Deutschland und Russland besetzt worden war. Im Zentrum dieser Gesangstradition stehen epische Erzählungen, lyrische Gedichte und magische Beschwö­rungen, die Runen (finnisch „runo“) genannt werden. Die gesungenen Gedichte decken ein breites Spektrum an Themen und Funktionen ab und können wie folgt kategorisiert werden: 

  • vorchristliche epische Zyklen mit der finnischen Mythologie als Basis
  • lyrischer, mehr emotionaler Gesang
  • Arbeitslieder
  • Schlaflieder 
  • Klagelieder (anlässlich einer Beerdigung oder einer Hochzeit)

Der wichtigste Bestandteil der Runenlieder ist die einzelne Verszeile; es gibt keine grösseren formalen Einheiten wie z.B. Strophen. Die Anzahl Liedzeilen kann bei jeder Vorführung variieren. Traditionell werden die Runenlieder meist im „call-response-Modus“ gesungen, d.h. ein Chor oder ein einzelner Sänger wiederholt die Textzeile des Vorsängers mit der identischen Melodie oder mit einer neuen – oft leicht abschliessenden – Melodie. Es gibt aber auch Runenlieder, die solistisch oder allein gesungen werden (z.B. gewisse Hochzeitslieder, Schlaflieder).

Massgebend für die Form der Runenlieder ist die metrische Struktur der meist achtsilbigen Verse. Alle finno-ugrischen Sprachen sind sogenannte quantitative Sprachen, d.h. die Abfolge von kurzen, langen und überlangen betonten Silben und Sprechseg­men­ten entscheidet über die jeweilige Wortbedeutung. Auch der musikalische Rhyth­mus besteht aus einer bestimmten – wiederholten – Abfolge von langen und kurzen be­tonten Elementen. Beim Singen der Liedzeilen orientiert sich die Melodie rhythmisch an der Struktur des Verses, denn dieser gibt die Anzahl Elemente und deren Gruppierung zu Mus­tern vor. Das rhyth­mische Muster fun­giert sozusagen als Bindeglied zwischen Melodie und Vers, denn die Runen­gedichte haben keine vorgegebenen Melo­dien.



Regionale Unterschiede
In vielen Gemeinden Estlands prägten die alte Bauernkultur und die Runen­lieder („regilaul“) das dörfliche Alltagsleben bis ins 19. Jahrhundert hinein. Während die Runen­lieder vielerorts in Vergessenheit geraten sind, sind sie in der Region Setumaa – im Grenzgebiet zwischen Estland, Lettland und Russland – noch immer Teil der Alltagskultur. Die finno-ugrische Sprache und Lieder der Setu waren zur Zeit der Sowjetunion verboten, werden heute aber wieder vermehrt gepflegt. Wie in der bulgarischen Chormusik werden auch in den Setu-Lieder viele für westliche Ohren ungewohnte Intervalle (Sekund, Quart) verwendet.



Auch in Ingermanland (Ingerimaa) bei St. Petersburg wurden die finnischsprachigen Menschen zur Zeit der Sowjetunion unterdrückt, deportiert und umgebracht. Der musikalische Stil der ingrischen Finnen ähnelt der Setu-Gesangskultur, allerdings werden die Röntyskä-Lieder unisono – also ohne Harmonien – im Frauenchor gesungen. Insgesamt kann man sagen, dass die Liedtradition in Estland und Ingermanland hauptsächlich durch eine weibliche und lyrische Vorstellungskraft geprägt ist.





 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen